Der Apostelbrief

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Auf ein Wort

Autor

Liebe Gemeinde,

Am 16. Mai hat ein bärtiger Mann mit den weichen Zügen einer Frau den Eurovision Song Contest gewonnen. Conchita Wurst nennt sie sich, mit bürgerlichen Namen Tom Neuwirth. Schon im Vorfeld empörten sich Politiker besonders im Osten, wo die Macho-Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Der polnische Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski sprach ihnen aus der Seele als er den Sieg von Conchita Wurst als »Beweis für den Verfall des modernen Europas« bezeichnete.

Ein Mann mit den weichen Zügen einer Frau, der von der Auferstehung des Phönix aus der Asche singt und von Toleranz und dem Ende des Hasses auf Minderheiten spricht. Bin ich der einzige, der da unwillkürlich an den Mann aus Nazaret denken muss? Ob seine Züge weiblich waren, weiß ich nicht. Seine Religion hatte eindeutig weibliche Züge. Gegen die Macho-Religion seiner Zeit pries er die Sanftmütigen selig, die Barmherzigen und Friedfertigen. Er lehnte jegliche Gewalt ab und forderte seine Mitstreiter auf, ihre Feinde zu lieben und auf Vergeltung zu verzichten.

In meiner neunten Klasse ernte ich verächtliches Kopfschütteln, als ich sage: Das Kreuz war die Konsequenz seines Weges. Wenn Gewalt mit Gewalt bekämpft wird, siegt immer die Gewalt, davon war er überzeugt. Die Machos aller Zeiten mit dem griffbereiten Klappmesser in der Tasche oder dem Leopard-Panzer im Hof schauen verächtlich herab auf diesen weltfremden Naivling. Aber er hat die Welt verändert, mehr als sie alle. Angesteckt von seiner Bergpredigt haben in der DDR nach den Friedensgebeten in der Nikolaikirche Zehntausende gewaltfrei demonstriert und so im Jahr 1989 die erste friedliche Revolution möglich gemacht.

Wenn man sich derzeit aber umschaut, scheinen die Macho-Religionen auf dem Vormarsch zu sein. In Indien gewinnt mit Modi ein fundamentalistischer Hindu die Wahl, in Syrien tobt ein Stellvertreterkrieg zwischen Sunniten und Schiiten, im Sudan wird eine Frau zum Tode verurteilt, weil sie Christin geworden ist, woanders rufen Christen zu den Waffen. Und die Lösung? Ein religionsloses Zeitalter? Ich setze meine Hoffnung eher auf die Gewalt zersetzende Kraft der Religion mit den weichen Zügen, auf den Friedensgeist, der Jesus beseelt hat und den er an Pfingsten auf seine Nachfolger hat ausfließen lassen, damit sie Sauerteig wären für diese Welt.

Sein Geist Ihnen allen,

Ihr Pfr. J. Riedel