Der Apostelbrief

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Das Liedgut der evangelischen Kirche im 20. und 21. Jahrhundert

Wann wird heutzutage noch gesungen? Eher selten. Und wo? – In Schulen, Kindergärten, in Opernhäusern und Theatern, in Probenräumen der Musikvereine und Chöre, vereinzelt in manch sangesfreudigem Haushalt und dafür um so mehr in Kirchen, regelmäßig in den Gottesdiensten. In evangelischen Gemeinden kommt dann vor allem das Liedgut aus dem allseits bekannten Evangelischen Gesangbuch (EG) zum Vortrag.

Das EG wurde in den Jahren 1993 – 1996 in den deutschsprachigen evangelischen Gemeinden Deutschlands, Luxemburgs, Elsass-Lothringens und Österreichs eingeführt. Es enthält einen Stammteil mit 535 für den gottesdienstlichen Gebrauch bestimmten Liedern und Gesängen, sowie einen Regionalteil. Derzeit sind 14 verschiedene Regionalteile in Gebrauch. Sie enthalten Psalmen, Gebete, Gottesdienstordnungen, Glaubensbekenntnisse, Informationen über Kirchenliedschaffende, Dichter und Komponisten, ... und berücksichtigen lokale Besonderheiten.

Die inhaltliche Gliederung des Stammteiles in Abschnitte, die dem Kirchenjahr, dem Gottesdienstablauf und den Sakramenten gewidmet sind, sowie vertonte Psalmen, Bitt- und Lobgesänge und Lieder für besondere Anlässe enthalten, ist in allen EG gleich. Die Idee des Stammteiles begründet sich auf den seit dem 19. Jahrhundert vorhandenen Bestrebungen, ein möglichst einheitliches Liedgut zusammenzustellen. So wählten 1853 Vertreter einiger evangelischer Landeskirchen die 150 meist gesungenen Lieder aus und veröffentlichten sie unter dem Titel Deutsches Evangelisches Kirchen-Gesangbuch in 150 Kernliedern (Eisenacher Büchlein). 1915 folgte die Herausgabe des Deutschen Evangelischen Gesangbuches (DEG) mit einer erweiterten Liedauswahl (345 Titel) und ab 1920 die Veröffentlichung von Gesangbüchern erstmals mit Regionalteilen. Das 1950 erschienene Evangelische Kirchengesangbuch (EKG) präsentiert einer Stammausgabe mit 394 gemeinsamen Liedern und Gesängen. Aus diesem Repertoire erfreuen sich vor allem die Advents- und Weihnachtslieder sowie die als Tischlieder geeigneten Gesänge auch außerhalb der Kirchen in allen Generationen uneingeschränkter Popularität.

Gesangbuch

Dieser kurze historische Abriss zeigt das Bemühen, nicht nur mit der Liedauswahl für den Stammteil des Gesangbuches der Entwicklung in den Gemeinden bis in die heutige Zeit gerecht zu werden. Etliche Lieder wurden im EG in Tonhöhe, Melodie und Rhythmus verändert. Wir finden nach wie vor neben uralten Liedern (z. B. aus der Reformationszeit) eine ganze Reihe neuerer Lieder und liturgischer Gesänge (z. B. aus Taizé). Mit „ö“ gekennzeichnete Titel sind häufig in derselben Fassung im katholischen »Gotteslob« enthalten. Sie spiegeln ökumenische Tendenzen der Kirche wider. Seit 1999 gibt es das EG auch auf CD-ROM unter dem Titel »Evangelisches Gesangbuch elektronisch«.

Diese angestrebte Vereinheitlichung des Liedgutes im deutschsprachigen Raum über die Ländergrenzen hinaus hat eine relativ einfache und erfolgreiche Pflege dieses Liedgutes zur Folge, von der ich mich Anfang der 1990er Jahre selbst überzeugen konnte. Damals hatte ich die Gelegenheit mehrere Ostergottesdienste in einer sich im Wiederaufbau befindenden evangelischen Gemeinde in Gusev/Gumbinnen (Kaliningrader Gebiet) mitzuerleben. Ich staunte nicht schlecht über die brillante Text- und Melodiesicherheit der mit relativ wenig Deutsch-Kenntnissen ausgestatteten hauptsächlich russland- deutschen Gemeindemitglieder beim Singen der uns aus dem EKG wohl bekannten Osterlieder.

Die Anglisierung der deutschen Sprache übt zunehmend Einfluss auf die Pfl ege des evangelischen Liedgutes. So beobachte ich, dass zu den vertonten Psalmen mittlerweile die wenigsten jungen Menschen noch einen Zugang finden, um so mehr zu englischsprachigen Preis- und Lobliedern. Für das Jahr 2015 ist eine Neuauflage eines evangelischen Gesangbuches geplant. – Wird die aktuelle Entwicklung berücksichtigt? Wird es möglicherweise in Zukunft ein mehrsprachiges intentionaleres evangelisches Gesangbuch geben?

-UG-