Der Apostelbrief

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Sehnsucht, Mystik und Wanderschaft

Die drei Begriffe im Titel haben in der Romantik ganz andere Konnotationen als im Christentum. Eine Sehnsucht der Romantiker war das Bestreben, sich aus dem Leben „hinwegzuträumen“. Daran kann man auch erkennen, wo die Wurzeln dieser geistigen Strömung liegen: Die Schlagwörter eines Romantikers waren Worte wie Gefühl, Phantasie und eben Sehnsucht, vor allem Sehnsucht nach der Unendlichkeit.

Letzteres ist wohl das wichtigste Charakterkriterium eines Romantikers. Die Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts sehnten sich nach verschiedenen Dingen, die meist nicht erreichbar waren. Ihre Sehnsucht war fixiert auf andere Welten, welche zur Entgrenzung führen, Traum- und Rauschwelten, Wunderglaube, Übersinnliches, wilde Natur, fremden Ländern und Kulturen, überhaupt Ferne, Kindheit, Tod und Jenseits. Die Sehnsucht nach Ferne führte dazu, der Vorstellung von Wanderschaft einen wichtigen Platz einzuräumen.

Die Affinität zur Mystik ist ein ganz wesentliches Merkmal der Romantik. Die Tendenz, dass die Gesellschaft zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher wurde, und immer mehr Rätsel und Phänomene naturwissenschaftlich erklärt werden konnten, war den Romantikern zuwider. Im Vordergrund stand bei ihnen vielmehr der Wunsch nach dem Geheimnisvollen in einer mythischen und mystischen Welt, die das Träumerische und Unerklärliche betonte.

Die Romantiker widmeten sich folglich dem Mystischen und Märchenhaften und lobten deshalb vor allem das Mittelalter als ideales Zeitalter der Geschichte, da in dieser Zeit alle Menschen im mythischen christlichen Glauben vereint wurden und darüber hinaus ein Kulturgut präsent war, welches das Leben durch Mythen und Sagen, aber eben nicht durch Wissenschaft und Fortschritt begründete. Das Traumhafte, die Fantasie sowie die dunklen Bereiche der Seele galten demzufolge als unerschöpflich und unermesslich.

Sehnsucht, Mystik und Wanderschaft

Die blaue Blume (der Romantik) versinnbildlichte für Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772−1801) die Sehnsucht nach der Einheit von Realität und Traumwelt, Möglichem und Mystik, Verstand und Empfindung durch vielschichtige realitätsüberschreitende Wahrnehmungen. Sie war für die Künstler der Romantik, Musiker wie Maler und Dichter, Symbol und Inbegriff ihres Lebensgefühls. Der Wiener Spätklassiker Schubert und die deutschen Romantiker Schumann, Mendelssohn und Brahms haben die durch die blaue Blume symbolisierte Sehnsucht in unsterblichen musikalischen Meisterwerken zum Ausdruck gebracht.

Für religiöse Menschen ist eine zentrale Sehnsucht dagegen das Streben nach dem Himmel, nach Erlösung. Dazu gibt es in den verschiedenen Religionen unterschiedliche Überlegungen. „Insofern muss man die Bestimmung Religion viel weiter fassen: Zunächst einmal ist es der Bezug auf ein Unbedingtes; das wird im Unterschied zum Endlichen auf spezifische Weise gefasst. Und daran machen sich Religionen fest im Hinblick auf Sinndeutungspraxen, weil jeder Mensch versucht seinem Leben einen Sinn zu geben und zu deuten.“ (Detlev Pollack).

Der christliche Glaube geht davon aus, dass wir alle zu Gott kommen, und Gott richtet die letzte Gerechtigkeit auf. Die Sehnsucht nach der messianischen Wiederkehr spielt eine große Rolle im Christentum: ... „bis du kommst in Herrlichkeit“, beten wir vor dem Abendmahl. Im Unterschied zur Romantik, wo die Sehnsucht angesichts ihrer prinzipiellen Unerfüllbarkeit zu Schmerz und Todessehnsucht („memento mori“) führt, stellen die Verheißungen der Bibel die Erfüllung der Sehnsucht in Aussicht.

Die Vorstellung der Wanderschaft spielt sowohl in der Romantik als auch in den Religionen eine Rolle. In der Romantik dient sie der (vergeblichen) Suche nach der blauen Blume, wie Eichendorffs berühmtes Gedicht zeigt; in den Religionen (nicht nur im Christentum, sondern besonders auch im Islam) findet sie eine konkrete Ausprägung in Pilgerreisen. Als Beispiel in der Musik der Nachromantik mag Franz Liszts Klavierzyklus Années de pèlerinage dienen, den der Autor in einem Konzert zu spielen schon einmal das Privileg hatte. Auch hier wird oft die Unerreichbarkeit des Ziels beklagt, wie in der letzten Strophe von Hesses Gedicht „Der Pilger“: Abschied nimmt die bunte Welt, die so lieb mir ward. Hab ich auch das Ziel verfehlt, kühn war doch die Fahrt.

Wonach der christliche Mensch sich sehnt, zeigt uns der Psalmist exemplarisch: Meine Seele sehnt sich nach dem Tempel des Herrn (Ps. 84, 3); mein Auge sehnt sich aus dem Elend (Ps. 88, 10); meine Augen sehnen sich nach deiner Verheißung (Ps. 119, 82).

Dass der Protestantismus, vor allem der Protestantismus der Aufklärung, die Romantik sehr kritisch sah, erkennt man an dem Detail, dass er – im Gegensatz zum Katholizismus – der Mystik allgemein skeptisch gegenüberstand. „Die Mystik sucht die Dämmerung und das Schweigen. Der Glaube findet im Wort den Tag: hier ist das Sturmzentrum. Entweder die Mystik oder das Wort.“ So schreibt 1924 Emil Brunner, einer der Wortführer der „protestantischen dialektischen Theologie“ nach dem ersten Weltkrieg.

Jürgen Appell