Der Apostelbrief

Winter 2022
Voriger Apostelbrief
Herbst 2021
Nr. 144
Nächster Apostelbrief
Frühjahr 2022
Beliebigen Apostelbrief wählen ...
1997:

1998:

1999:

2000:

2001:

2002:

2003:

2004:

2005:

2006:

2007:

2008:

2009:

2010:

2011:

2012:

2013:

2014:

2015:

2016:

2017:

2018:

2019:

2020:

2021:

2022:
144

2023:

2024:

Christus auf einer Bühne in Moskau

Eine wahre Begebenheit aus der Stalinzeit

Die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern ist dem Leben und Wirken Jesu Christi gewidmet. Die bekannten Seligpreisungen (Mt. 5) spielen hierbei eine prominente Rolle. Die folgende authentische Geschichte wurde in der Sowjetunion hinter vorgehaltener Hand kolportiert, und noch heute ist sie in Russland bekannt und berühmt.

Im Moskauer Staatstheater sollte die Premiere eines antireligiösen Stücks zur Aufführung kommen, in dem der christliche Glaube und insbesondere der Klerus lächerlich gemacht werden sollte. Schulen, Universitäten, Jugendorganisationen und Jungarbeiter sollten das Stück in ihr Kulturprogramm aufnehmen und diskutieren.

Christus in Moskau

Die Hauptrolle des Christus spielte der berühmte Schauspieler und Kommunist Alexander Sergeevich Berezanskij. Daher war es kein Wunder, dass das Theater bis auf den letzten Platz ausverkauft war. Auf der Bühne stand eine Art Altar, übersät mit Schnaps- und Bierflaschen. Betrunkene und grölende Popen, Nonnen und Mönche bewegten sich um diese Bartheke.

Zu Beginn des zweiten Aktes betritt Berezanskij die Bühne. In seinen Händen hält er – deutlich sichtbar – die Heilige Schrift. Laut Regieanweisung hat er mit Witzen und Späßen die Zuschauer zu Lachstürmen hinzureißen. Alles, was mit Dummheit und Aberglauben zusammenhängt, ist in diese Szene hineingepackt. Nach Verlesen der ersten beiden Verse aus der Bergpredigt soll dann der Schauspieler in den Ruf ausbrechen: “Reicht mir Frack und Zylinder!”

Berezanskij beginnt und liest: „Selig sind, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig sind die, die Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.” Der Regisseur schmunzelt hinter den Kulissen in sich hinein: in wenigen Augenblicken werden die Lachstürme losbrechen. Aber nichts geschieht.

Der Schauspieler liest weiter: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.” Das Publikum rührt sich nicht. Es spürt in diesem Moment, dass mit dem Schauspieler etwas Unerwartetes geschieht. Alle halten den Atem an. Berezanskij wischt sich mit der Hand über die Augen. Dann, nach kurzer Unterbrechung, liest er weiter, mit einem ganz anderen Klang in der Stimme: Totenstille im ganzen Theater.

Dann tritt der Staatsschauspieler mit der Bibel in der Hand an die Rampe, schaut wie gebannt in das Buch und liest... und liest... liest immer weiter mit bebender Stimme, alle 48 Verse des 5. Kapitels des Matthäus-Evangeliums. Niemand unterbricht ihn. Sie lauschen, als stünde Jesus selbst vor ihnen. Dann kommt der letzte Vers, leise, fast geflüstert, von seinen Lippen: „Darum sollt ihr vollkommen sein, so wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist.”

Berezanskij schließt das Buch. Es sieht so aus, als tue er damit auch etwas Endgültiges für sein Leben. Er bekreuzigt sich nach orthodoxer Art und spricht laut und vernehmbar die Worte des Schächers am Kreuz: “Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.”

Christus in Moskau

Niemand spricht, niemand pfeift, niemand protestiert. Das Publikum erhebt sich und verlässt stumm das Theater: der Blitz hat eingeschlagen und alle ohne Ausnahme getroffen.

Danach kam das Stück nie wieder zur Aufführung. Und Berezanskij war nach jenem Premierenabend für immer verschwunden.

Jürgen Appell