Der Apostelbrief

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Zeit

Autor

Liebe Gemeinde,

Da saß ich nun mit dem festen Vorsatz, ein Vorwort über die große Frage nach der Zeit zu schreiben. Und schon entdeckte ich in meinem Kopf, ohne mich dem widersetzen zu können, ein Bild: „Urlaub“ - Zeit haben, ganz ohne den Blick auf die Uhr, ohne das Messen von Stunden und Minuten, Zeit, die im leichten Schlenderschritt freimütig verbracht werden kann ...

Und es fällt mir ein Text ein, den ich vor einiger Zeit in die Finger bekommen habe:

Stell dir vor, du hast in der Lotterie gewonnen. Auf deiner Bank ist für dich ein Konto eröffnet worden, das jeden Tag mit 86400 Euro gefüllt wird. Du hast dieses Geld jeden Tag neu und kannst es nach Belieben ausgeben. Aber du kannst es nicht sparen. Alles, was du nicht ausgibst, verfällt. Trotzdem: Jeden Morgen sind neu 86400 Euro auf deinem Konto. Der kleine Haken an der Sache ist der, dass eines Tages dieses Konto geschlossen wird und du weißt nicht wann. Des Rätsels Lösung ist nicht schwer. Ja, wir haben dieses Konto, es ist das Zeitkonto. Jeden Tag haben wir 86400 Sekunden Leben zur freien Verfügung. Wir können sie nach Belieben füllen oder verstreichen lassen.

Wenn man diese Geschichte so hört, können zwei vollkommen unterschiedliche Assoziationen entstehen. Auf der einen Seite ist dieses Bild doch schrecklich. Es setzt unter Druck, denn aus jeder Zeile schreit es einem doch den unentrinnbaren Appell „Nutze deine Zeit nur richtig aus!“ entgegen. Sie spiegelt perfekt das Bild in unserer heutigen Leistungsgesellschaft wider. Vertue deine Zeit ja nicht mit unnötigen Dingen. Optimiere dein Zeitmanagement. Oder etwa nicht?

Auf der anderen Seite könnte man aber auch völlig anders denken. Jeden Morgen erhalten wir Menschen wieder 86400 Sekunden Leben auf unserem Zeitkonto. Und so könnten wir diese Sekunden auch als Geschenk ansehen, denn sie sind im Überfluss da, bis zu dem Tag, an dem unser Zeitkonto erschließt.

Die Geschichte hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie es mir geht, wenn ich „verliere“, aber auch wie es uns geht mit dem „Verlieren“. Wie gut können wir verlieren? Zeit verlieren? Misserfolge kassieren?

Wie gut können wir „halb gut“ sein, angefangene Arbeiten liegen lassen? Eine halb gute Mutter sein? Ein halb guter Lehrer? Eine halb gute Sportlerin? Sind wir gute Verlierer?

Vielleicht passt das Wort „gut“ hier gar nicht, aber das Wort „gelassen“. Wie gelassen können wir verlieren?

Ob Lebensglück darin besteht, immer noch etwas hinzuzufügen, um etwas zu „vollenden“?

Es könnte ja auch sein, dass manchmal etwas gerade deswegen vollkommen ist, weil man alles Unnötige weggenommen hat? Ich glaube, zu diesem Lebensstil können die Sommer- und die Urlaubszeit locken. Daraus ein Programm zu machen wäre denkbar unsinnig. Aber mitten im Erleben plötzlich Räume, neue Lebensmuster, Perspektiven zu entdecken, in denen Verlieren ein echtes Gewinnen ist, das muss und braucht man nicht planen, sondern darf es dann einfach genießen, wenn man es gerade erlebt. Und manches davon lässt sich vielleicht, leichter als gedacht, mit hinüber nehmen in den Alltag ...

Verbunden mit dem Wunsch nach einem schönen Sommer grüßt Sie herzlich,

Ihre Kristin Orth