Der Apostelbrief

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Bericht vom Deutschen Evangelischen Kirchentag

in Leipzig, 18. - 22. Juni 1997

Thomaskirche
Die Thomaskirche in Leipzig

Sicher ist es vielen der 80.000 Westdeutschen Besuchern des Kirchentages ebenso ergangen wie mir, daß wir gespannt und neugierig für 5 Tage nach Leipzig gefahren sind.

Leipzig, neben Berlin die Großstadt der neuen Bundesländer, wo der größte Aufschwung stattfindet, Plattenbauten mit sehr schön renovierten Gründerzeithäusern konkurrieren müssen. Wo die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist und wo nur 15 % der Menschen einer Kirche angehören, obgleich die Nicolaikirche 1989 mit ihrem politischen Nachtgebet und ihrer Offenheit sehr zum demokratischen Aufbruch beigetragen hat. Gerade in dieser Stadt sollte das traditionelle Christentreffen stattfinden. Es lag wohl selten so viel Erwartung und Spannung auf einem Kirchentag.

Aber es war gut und ist wohl auch das Anliegen des Kirchentages, daß er nicht da stattfindet, wo »heiles« Christentum gelebt wird, sondern wo sich die Zukunft unserer Gesellschaft abzeichnet.

Das Thema des Kirchentages: »Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben« war nicht einfach umzusetzen. Es spiegelte sich wider in den Bibelarbeiten und in den vielen Vortragsangeboten. Schwerpunkte waren das Nachdenken über die deutsche Vergangenheit, Verständigung zwischen Ost und West, die Zukunft der Deutschen und die Arbeitssituation.

An jedem Morgen wurde der Tagesablauf geplant. Um 9.00 Uhr Bibelarbeit, interessiert mich mehr als der tschechische Arzt oder der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes a.D. mit seiner Auslegung? Welches Thema ist für 11.00 Uhr und 15.00 Uhr wichtig, wo kann man den Abend etwas entspannter verbringen?

Mich persönlich haben am meisten die Themen: Arbeitslosigkeit, Armut, Solidarität und Gerechtigkeit angesprochen. Unvergeßlich bleibt mir das Resümee eines Vortrages von Friedrich Hengstbach (kath. Theologe und Ökonom). Er fordert »einen neuen Gesellschaftsvertrag«, der die Grundlage für eine zukunftsfähige Gesellschaft legt: Gerechte Verteilung der Arbeit und Einkommen, ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau und einen Begriff von Arbeit, der auch gesellschaftliche Aufgaben wie Kindererziehung, Pflege und ehrenamtliches Engagement mit einschließt.

Wenn man weniger konzentriert zuhören wollte, konnte man den »Markt der Möglichkeiten« besuchen, in der Innenstadt bummeln, wo Gruppen musizierten oder sich kirchliche Aktivitäten darstellten - oder sich ausruhen bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen. Man kam mit Leipzigern ins Gespräch, ganz besonders bei den Fahrten in den überfüllten Straßenbahnen von der Neuen zur Alten Messe.

Der Abend klang aus mit einem Gottesdienst besonderer Art: einer lateinamerikanischen Beatmesse, einer Techno-Messe, Gottesdiensten in den Leipziger Kirchengemeinden, einem Nachtgebet, einem Kabarett oder einem Konzert.

Es gäbe noch vieles zu berichten. Es war sehr spannend die Vielfalt der Christen und auch Nichtchristen zu erleben. Jeder hatte die Möglichkeit für sich etwas wichtiges mitzunehmen.

Ursula Geißlinger